Mein Auslandsjahr
Jetzt sitze ich hier im Zimmer meiner Gasteltern und versuche, einen Erfahrungsbericht über mein Austauschjahr hier zu schreiben. Heute war mein letzter Schultag, aber so fühlt es sich gar nicht an. Die Erinnerungen vom Anfang des Jahres sind noch so frisch, als wäre es gestern gewesen. Ich glaube nicht, dass ich meine Erfahrungen von meinem Schüleraustausch und Ansichten genauso rüberbringen kann, wie ich es selbst erlebt habe, aber ich hoffe, dass das, was ich hier schreibe, trotzdem einen Sinn macht und ein Bild von meinem Aufenthalt hier vermittelt.
Wie alles begann
Warum ich ein Jahr ins Ausland wollte, weiß ich eigentlich selbst nicht. Ich glaube, dass mich die Erzählungen und Berichte von anderen Austauschschülern einfach unheimlich fasziniert haben. Und auf alle Fälle war auch ein Stück Abenteuerlust dabei, ich wollte mal rauskommen aus der Umgebung, in der ich die sechzehn Jahre meines Lebens verbracht habe, wollte etwas anderes erleben, vielleicht auch, um dem Alltagstrott zu entfliehen. Doch wenn ich jetzt hier sitze, ist diese Umgebung mir so vertraut, und das Leben hier so gewohnt, dass ich weiß, dass es wohl überall einen gewissen "Alltagstrott" gibt. Vielleicht ist das ja auch gar nicht unbedingt nachteilig.
Warum Frankreich?
Für Frankreich habe ich mich eigentlich nur entschieden, weil ich mich ja schließlich für meinen Schüleraustausch für ein Land entscheiden musste. Ich hatte das Gefühl, dass ich besser Englisch als Französisch konnte und wollte deswegen mein Französisch verbessern. Ich dachte mir, dass mir das vielleicht mehr "bringen" würde. Eine Freundin aus meiner Klasse, Anneke, hatte sich auch entschieden, nach Frankreich zu gehen, sie hatte sich auch schon eine Organisation ausgesucht, esfa ("échanges scolaires franco-allemands). Weil mir der Gedanke gefiel, mit meiner Freundin eventuell in eine Stadt zu kommen (esfa vermittelt hauptsächlich nach Lyon und Umgebung), entschied ich mich daraufhin für die gleiche Organisation. Ich bewarb mich für zehn Monate, wohingegen Anneke nur fünf Monate bleiben wollte. Ende Juni lief ich jeden Tag gespannt zum Briefkasten, in der Erwartung einen Brief mit meiner Gastfamilienadresse zu bekommen. Als sie dann endlich eintraf, rief ich sofort Anneke an, um zu erfahren, ob sie ihren Brief auch erhalten hatte. Zu unserer gegenseitigen Freude, waren wir beide in Lyon, zwar an den entgegengesetzten Enden, aber immerhin!
Es geht los
Ende August ging es dann los. Meine Eltern brachten Anneke und mich im Campingbulli nach Lyon. Ich realisierte nicht wirklich, was ich da vor mir hatte und befolgte einfach den Rat, den mir mein Vater immer gegeben hat: Einfach alles auf sich zukommen lassen. Auch als wir dann in Lyon ankamen, stellte ich mir nicht vor, hier jetzt die folgenden zehn Monate zu verbringen. Eigentlich habe ich die ganze Zeit von Tag zu Tag gelebt. Nur wenn ich meinen Kalender anschaute, fiel mir auf, dass die Tage die vor mir lagen, sich verringerten und die Zeit, die ich schon hier war, immer länger wurde. Tja, aber das, was hinter einem liegt, scheint einem, glaube ich, fast immer kurz.
Freunde finden
Am Anfang fand ich es schwierig, Freunde in meinem Austauschjahr zu finden. In meiner Klasse lernte niemand Deutsch, aber fast alle Spanisch oder Italienisch als zweite Fremdsprache. Ich konzentrierte mich zunächst auf ein Mädchen aus meiner Klasse, die ich sehr sympathisch fand. Ich fand es allerdings schade, dass sie nie außerhalb des Unterrichtes Zeit hatte. Außerdem konnte ich die beiden Mädchen, mit denen sie sonst befreundet war, nicht leiden. In meiner Schule ist auch eine Kanadierin, die auch für das ganze Schuljahr da ist, um besser Französisch zu lernen. In ihr habe ich eine sehr vertraute Freundin gefunden, die teilweise die gleichen Probleme hatte wie ich und mit der ich deswegen ein sehr intensives Verhältnis habe. Französische enge Freunde habe ich eigentlich erst nach den Weihnachtsferien gefunden. Weihnachten war ich bei meiner Familie in Deutschland. Ein Mädel und ein Junge aus meiner Klasse und eine Schülerin aus meiner Parallelklasse sind jetzt meine engsten Vertrauten. Wir unternehmen viel, auch wenn die Freizeitbeschäftigungen hier etwas anders sind als zuhause. Hier war ich zum Beispiel erst einmal in den neun Monaten, die ich jetzt hier bin, in der Disco. In Frankreich ist es unüblich, dass Jugendliche mit sechzehn nach Mitternacht noch unterwegs sind. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass deutsche Schüler in meinem Alter häufig schon selbstständiger und unabhängiger als Franzosen im gleichen Alter sind. Hauptsächlich liegt das, glaube ich, an der Erziehung. Hier bekommen viele Schüler aus meiner Klasse zum Beispiel noch kein Taschengeld und müssen ihre Eltern jedes Mal nach Geld fragen, wenn sie etwas unternehmen wollen. Natürlich ist das keine allgemeingültige Aussage, es ist mir nur aufgefallen.
Die Schule
Die Schule hier empfinde ich als kühler. Die Lehrer haben selten ein persönliches Verhältnis zu ihren Schülern, es wird sehr viel diktiert und man muss grundsätzlich mitschreiben, wenn der Lehrer spricht. Ich bin in der naturwissenschaftlichen Sektion, Première S (für science), wo der Schwerpunkt auf Mathe, Physik, Chemie und Biologie liegt. Zu Beginn des Schuljahres hatte ich mir eigentlich vorgenommen, nicht viel für die Schule zu arbeiten, weil die Noten nicht für Deutschland zählen, aber irgendwie habe ich das dann nicht durchgehalten. Als ich mich an die Schule hier gewöhnt habe, hätte ich es komisch gefunden, nicht wenigstens ein Minimum für den Unterricht und die Klassenarbeiten zu tun. Jetzt zum Ende des Jahres habe ich es sogar geschafft einen Durchschnitt zu erreichen, der besser ist als der Klassenschnitt und mit dem ich in die nächste Stufe versetzt werden würde, in die Terminale S. Was ich völlig verlernt habe, ist mein Englisch. Ich kann es immer noch verstehen, aber sobald ich versuche, etwas auf Englisch zu sagen, fallen mir nur französische Worte ein. Gelegentlich kann es dann auch passieren, dass ich ein französisches Wort englisch ausspreche, weil ich wirklich denke, dass es auf Englisch das Gleiche sei.
Meine Gastfamilie
Meine Gastfamilie ist relativ "spéciale", ich habe noch nie so eine Frau wie meine Gastmutter kennengelernt. Sie ist sehr lebhaft, kontaktfreudig und unternehmungslustig, wodurch ich eine Menge Leute kennen gelernt habe. Sie kann andere durch ihre dominante und charismatische Art dazu bringen, Sachen zu machen, die sie eigentlich gar nicht machen wollen. Auf der anderen Seite erwartet sie auch sehr viel von den Leuten, die um sie herum sind. Ich muss viel im Haushalt machen und ihr gelegentlich kleine Gefälligkeiten erweisen, wie zum Beispiel in die Stadt fahren, um ihre Bücher zur Bücherei zu bringen etc. Mit ihrem Verhalten eckt sie nicht selten bei anderen Leuten an (zum Beispiel am Arbeitsplatz oder bei ihren Freunden) und auch mit mir gab es Momente, in denen wir heftig aneinander geraten sind. Situationen, in denen ich sogar darüber nachgedacht habe, die Familie zu wechseln. Letztendlich ist sie aber eine liebevolle Person, mit der man klarkommen kann, wenn man sich nicht alles gefallen lässt. Keiner meiner drei Gastgeschwister lebt hier, sie sind alle in anderen Städten, um zu studieren. Deswegen habe ich auch kein sehr intensives Verhältnis zu ihnen, weil sie nur selten für einige Tage kommen. Dafür lebt hier aber noch ein Student aus Paris, den meine Gastfamilie auch beherbergt und mit ihm verstehe ich mich unheimlich gut. Ich glaube, dass ich ohne ihn wirklich die Gastfamilie gewechselt hätte. Er bildet einen gewissen Gegenpol zu meiner hektischen und aufgedrehten Gastmutter. Mein Gastvater ist meistens nur am Wochenende da, weil er unter der Woche in einer anderen Stadt arbeitet. Er ist ein sehr ruhiger Typ, der nicht besonders viel redet, eigentlich das genaue Gegenteil zu meiner Gastmutter. Er ist sehr sparsam und deswegen hatte ich auch teilweise den Eindruck, dass er es hauptsächlich akzeptiert, Gastschüler aufzunehmen, weil das noch ein bisschen Geld zusätzlich in die Haushaltskasse bringt. Ganz sicher bin ich mir dabei aber nicht, wie gesagt, es ist ein Gefühl. Die Gastfamilien bei esfa bekommen einen bestimmten Betrag im Monat, was ich eigentlich nicht negativ finde. Schließlich haben sie Ausgaben, die fast in der Höhe der Ausgaben für ein eigenes Kind liegen und sie engagieren sich auch.
Ich bereue nichts
Ich habe mich in die ganze Geschichte ziemlich "hereingestürzt", das heißt, dass ich mir vorher eigentlich nicht viele Gedanken gemacht habe. Ich wusste, dass ich das machen wollte und ich weiß auch, dass ich es nicht bereuen werde. Wie könnte man es bereuen, eine andere Stadt seine zweite Heimat zu nennen und einen neuen Freundeskreis gefunden zu haben? Natürlich bin ich nicht immer nur auf freundliche, aufgeschlossene Menschen getroffen, es gibt immer noch Menschen, die Deutschen gegenüber Vorbehalte haben. Aber andere haben mir zum Beispiel auch ganz ehrlich gesagt, dass ich ihr Bild von einer Deutschen unheimlich positiv verändert habe. Damit ist das vielleicht eine Erfahrung, die nicht nur mein Leben ein Stückchen verändert hat, sondern auch das der anderen, die ich kennen gelernt habe und auch dadurch sehe ich es als einen Erfolg an. Ich glaube übrigens, dass es keine große Bedeutung hat, in welches Land man geht. Es kommt immer auf die innere Einstellung an. Man muss versuchen, offen auf die Leute zu zugehen, dann kann man überall Freunde finden. Denn eigentlich sind die Menschen meiner Meinung nach - trotz kultureller Unterschiede - gleich.
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